König Konsistenz bekommt neue Regentin
Die neue Regentin im Markt-Dschungel ist Dynamik. Unzählige Kontaktpunkte mit verschiedenen technischen Anforderungen, spezifischen Erwartungen und einer schnell wachsenden Creator Culture zwingen Konsistenz in die Knie und läuten ein Not-One-Size-Fits-All-Zeitalter ein. Was sollten Marken also tun?
Ein wenig loslassen.
Markendynamik: Erstarren vs. Loslassen?
Eine starre Marke ist unzeitgemäß, eine zu weiche Marke verliert ihre Wiedererkennbarkeit. Es ist ein schmaler Grat. Um richtig loszulassen, setzen dynamische Marken auf Spurassistenten: Werte, Vision und Mission bilden den stabilen Kern, während andere Elemente wie Produkte, Design, Sprache und Kampagnen modular an Themen, Platzierungen und Zielgruppen angepasst werden.
Ein Beispiel ist Coca-Colas Recycling-Kampagne, die das eigene Logo deformiert, um zum Recyceln zu animieren. Distinktive Assets, die über Jahrzehnte etabliert wurden, so einzusetzen, erfordert Mut – der sich auszahlt. Das geht, weil Coca-Cola einen starken Kern und andere wiedererkennbare distinktive Assets (z.B. die Farbe Rot) hat, die der Markendekodierung helfen. Unser Tipp: Nicht alles loslassen, sondern Spurassistenten installieren - und den Thron teilen.
Ok, but why?
Eine der größten Ängste von CMOs weltweit ist der Kontrollverlust über ihre Marke. Nur haben sie die Zügel (noch) in der Hand? Nicht wirklich – aus zwei Gründen:
Erstens ist die Deutung einer Marke ein ständiger Aushandlungsprozess, in dem das Publikum den Richterhammer schwingt. Jede Botschaft wird durch die kulturellen und sozialen Filter der Zielgruppe neu interpretiert. Besonders in digitalen Räumen herrscht der Wilde Westen: Inhalte werden eigenständig umgedeutet und in Echtzeit weiterverbreitet. Klingt gefährlich – warum also loslassen und noch mehr Freiheit erlauben?
Damit kommen wir zu zweitens: Kommunikation wird privater. Der tägliche Austausch verlagert sich zunehmend in geschlossene Räume – ins Cozy Web (Venkatesh Rao). Auf Plattformen wie WhatsApp, invite-only Discord, TikTok-DMs, Sub-Reddits oder Telegram-Gruppen findet Interaktion privat(-ish) in mehr oder weniger eng verbundenen Communities statt. Das dezentralisiert die Kommunikation und fordert ein Umdenken: Marken sollten ihre Bedeutung aktiv gestalten, aber nicht durch starre Vorgaben, sondern mit einem stabilen Kern und der Akzeptanz, dass sie auch Plattformen sind.
Einladen lassen: Marken als Plattformen für Nischen
Diese Privatisierung und das Wachstum der Creator Culture, die Micro-Communities um Nischenthemen kultiviert, eröffnen Marken neue Chancen für Relevanz, die in Massenmedien schwer zu erreichen ist. Zoe Scaman, bringt es auf den Punkt: „We find nurture in the niches.“ Dort bauen wir reale Verbindungen um ein Thema auf. Wir unternehmen Deep-Dives in die Feinheiten und dürfen von Creator*innen in der Nische lernen. Hier fühlt sich das Internet wie ein Zuhause an – eines, das Bewohnende und Besuchende einlädt, mitzugestalten.
Wie werden Marken in dieses Heim eingeladen? Indem sie sich als Plattform für die Nische verstehen, zuhören und Mehrwert bieten. Ein Schlüssel liegt in der Kooperation mit einflussreichen Institutionen und Creator*innen der Nische.
Nehmen wir zum Beispiel den Anime-Bereich. Ein Bereich, der in den letzten fünf Jahren ein enormes Wachstum verzeichnet hat und Fandoms aufweist, die sich mit der Loyalität zu Sportmannschaften vergleichen lassen. Luxusmodemarken haben das erkannt und testen zunehmend diesen Bereich durch Kooperationen mit bekannten Anime-Studios: LOEWE x Studio Ghibli oder Jimmy Choo, die eine Schuhkollektion im Sailor Moon-Thema kreierten. Diese Marken schaffen außergewöhnliche Berührungspunkte, akzeptieren die Freiheit von gebrandeten Inhalten und bieten eine Plattform – statt Kontrolle.
Nischen-Stitching als Wachstumstreiber: Beispiel „The V&A“
Musik, Fashion, Gaming: Subkulturen und Nischen sind zentrale Treiber neuer Popkultur. Das ändert sich nicht. Die Entwicklung von Trends zum Mainstream ist allerdings schneller, fragmentierter und kurzlebiger geworden. Marken sollten sich daher so positionieren, dass nicht Trends, sondern tieferliegende Nischenkulturen ihre Kollaborationen inspirieren.
Um mit diesen Kollaborationen auch Reichweite zu sichern, können Marken durch Nischen-Stitching, die gezielte Auswahl mehrerer Nischen, die mit den eigenen Markenwerten harmonieren, ein größeres Publikum definieren und somit die etwaigen Verluste, die mit Nischenprojekten verbunden sind, ausgleichen. Der Clue ist, dass Marken in diesem selbstkreierten, fragmentierten Massenmedium jeder Nische einen Mehrwert bieten muss und gleichzeitig ihren Kern nicht verwässern darf.
Ein spannend umgesetztes Beispiel des Nischen-Stitchings ist das Victoria & Albert Museum mit der Kampagne „If you’re into it, it’s in the V&A“ – eine detailliert ausgearbeitete Kampagne, die 70 Nischen bedient und gemeinsam mit Knit-Wear-Influencer*innen, Twitch-Streamer*innen und allerlei weiteren Creator*innen Gegenstände erzeugt und in UK platziert hat, damit die Zielgruppen sie entdecken konnten. Mehr dazu auf D&AD.
Fazit: Der Thron ist geteilt
König Konsistenz fällt nicht, doch ein Duett mit der dynamischen Regentin leuchtet den Weg in die Zukunft. Konsistenz bleibt der stabile Kern, gibt jedoch ihre Starrheit auf. Marken dürfen auf Flexibilität und Offenheit setzen – besonders, wenn es darum geht, mit Nischen zu resonieren. Für uns heißt das: Wer bereit ist, das Kontrollzepter abzugeben, wird Teil der Geschichten seines Publikums.