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Schwarz-weiß Bild einer Schildkröte und Hasen auf einem Sternenhimmelhintergrund
Image partially created by AI
07
Aug
2024

Im Marketing funktionieren scheinbar irrationale Dinge erstaunlich häufig. Ein Blogbeitrag darüber, wie wir entscheiden und was es für Marketingverantwortliche bedeutet.

Warum Good enough, Good enough ist

Red Bull hat im Produkt-Pre-Testing grottenschlechte Geschmacksbewertungen erhalten und hat 2023 trotzdem mehr als zwölf Milliarden Dosen verkauft. Wie kann so etwas unlogisches so erfolgreich sein?

Entscheidungen sind oft ein Wettstreit zwischen dem rasanten Hasen (System 1) und der überlegten Schildkröte (System 2). Während System 1 für schnelle, intuitive Entscheidungen sorgt, ermöglicht System 2 tiefere, analytische Überlegungen. Indem wir diese Entscheidungsmechanismen kennen und früh im kreativen Prozess integrieren, können Marken, NGOs und Regierungen spontane, als auch überlegte Kaufentscheidungen unterstützen und Verhaltensänderung positiv beeinflussen.

Wie entscheiden wir eigentlich? Good enough.

Der menschliche Entscheidungsprozess ist messy, irrational und nur selten von rationaler Reflektion geprägt. Diese Auffassung war mal anders: noch im 20 Jahrhundert gingen wir davon aus, dass wir ein hauptsächlich rationales Entscheidungsmodell verfolgen, in dem wir alle Vor- und Nachteile präzise abwiegen und dann eine informierte, logische Entscheidung treffen. Heute wissen wir, dass es anders ist. 12 Milliarden Red Bull Dosen beweisen es.

Wir machen „good enough“, keine perfekten Entscheidungen. Wir sind gleichgültige kognitive Geizhälse, die sich auf angeborene und erlernte Fähigkeiten, sowie Heuristiken verlassen, um Handlungs- und Kaufentscheidungen zu treffen. Das Motto: Den Aufwand verringern. Und das passt super zur Aufgabe einer Brand: Make something easier to do, buy or think.

Zitat auf einem schwarz-weißem Sternenhimmelhintergrund mit der Aufschrift "Das Motto: Den Aufwand verringern."
Zitat auf einem schwarz-weißem Sternenhimmelhintergrund.

Das Good-enough-System

System 1 vs. System 2 = Hase vs. Schildkröte

Stell dir vor, ein Hase und eine Schildkröte wetten um 5 Karotten, wer der Schnellste ist. Beide stehen gebückt in den Startlöchern, die Hinterbeine voll gespannt und “Peng”, der Hase explodiert aus der Startposition und ist auf und davon. Die Schildkröte hingegen entscheidet sich noch, ob sie nicht doch lieber sitzen bleibt.

Ähnlich geht es uns. Daniel Kahnemann popularisierte dieses Prinzip unter dem Namen System 1 und System 2 - Thinking. Die Hauptunterschiede: Geschwindigkeit & Anstrengung.  

System 1, unser rasanter Hase, schießt sofort los, wenn es einen Reiz bekommt. Vergangene Erfahrungen – gute und schlechte – formen mühelos die erste intuitive, unbewusste Bauchgefühlsreaktion. Und unsere Schildkröte, das langsame, analytische System 2, hinterfragt dann bewusst und logisch, ob sie nicht einfach Salatblätter frisst. Dieses Denk-System spart Ressourcen, weil wir nicht jede Information prozessieren müssen.

Autofahren wäre quasi unmöglich, wenn wir jeden Sinneseindruck mit System 2 verarbeiten müssten. Daher greifen wir bei manchen Entscheidungen nicht auf System 2 zurück. Zum Beispiel bei häufig wiederholten Entscheidungen. Haben wir uns einmal daran gewöhnt jeden Tag ein Red Bull zu kaufen, kommen andere Marken selten ins Vorauswahl-Feld. Wir kaufen auf Auto-Pilot im Supermarkt. Koffein feuert das Ganze noch mal an; nicht umsonst gibt es mittlerweile koffeiniertes Wasser.

Was bedeutet das für Marken? Hebel durch Heuristiken.

System 1, das unbewusste Denken, beeinflusst unser Handeln immens und bildet fruchtbaren Boden für kognitive Verzerrungen (Biases und Heuristiken), die mögliche Hebel zur Verhaltensveränderung sind. Mehr als 180 sind bislang identifiziert. Diese mentalen Schleichwege, welche aus den begrenzten Kapazitäten von System 1 entspringen, erlauben trotz unvollständiger oder gar widersprüchlicher Informationen zu urteilen. Und das automatisch.

Zitat, welches auf einem Sternenhintergrund sagt: "Heuristiken sind mentale Schleichwege."

Marken, NGOs oder Regierungen müssen sich bewusst sein, dass wir nicht rational entscheiden. Daraus ergeben sich mindestens drei Learnings:  

  1. Entscheidungssituationen sollten gezielt gestaltet werden (Stichwort Nudging),
  1. Emotionen sind der Schlüssel zur Verhaltungsveränderung,
  1. und Ideen müssen nicht immer logisch sein.

1. Entscheidungen designen (Nudging)

Nudging bezeichnet die gezielte Gestaltung von Entscheidungssituationen, die Menschen dazu bringt, ihr Verhalten und ihre Entscheidungen auf vorhersehbare Weise anzupassen. Sieh es wie einen Denkanstoß in die „richtige“ Richtung, ohne mit Verboten, Geboten oder ökomischen Reizen intervenieren oder überzeugen zu müssen. Menschen und ihre Heuristiken zu verstehen wird hier Grundlage zur Verhaltensveränderung. Wenn du eine Smart-Watch besitzt, kennst du das: „Hast du deine 10000 Schritte heute schon erreicht?“ Quasi ein Selbstkontroll-Nudge, der das Kernziel im Auge behält, das wir sonst im reizüberfluteten Lebensalltag unbewusst vergessen.

2. Emotionen sind Key

Emotionen (im Vgl. zu Inhalten) dringen zu den unbewussten, gefühlsgetriebenen Prozessen von System 1 durch, und haben das Potenzial den Menschen auf intuitiver Ebene zu beeinflussen. Wir erinnern uns nicht daran was gesagt wurde, sondern, wie es gesagt wurde und welche Gefühle es hervorgerufen hat. Dieses Gefühl verbleibt meist länger als z.B. kurzweilige Preis-Promotions – und damit es noch länger bleibt, gilt es diese Gefühlsassoziationen immer wieder kreativ zu erneuern.  

3. Ideen dürfen unlogisch sein  

Wie schon Ogilvy’s Rory Sutherland gesagt hat: „Auch das Gegenteil einer guten Idee kann eine gute Idee sein.” Red Bull Beispiel: Wir machen ein Getränk, das nicht schmeckt, aber anders ist. Und es wurde wahr: Wie Wein, ist es ein akquired-taste geworden.

Welche Heuristiken gibt es?

180+ Schleichwege merkt sich kein Mensch. Um Heuristiken zu verstehen und zu nutzen, hilft es sie zu unterteilen. Grob haben sie vier Kategorien, die als Leitfragen eine Brand Experience beeinflussen können.

  • Informationsüberladung: Wie priorisieren wir, was unsere Aufmerksamkeit schenken?
  • Bedeutungsschwäche: Wie fördern wir Verständnis einer Information?
  • Erinnerungspriorisierung: Wie ordnen und priorisieren wir, was wir für wichtig empfinden?
  • Handlungsgeschwindigkeit: Wie entscheiden wir in welche Handlung wir Energie stecken?  

Eine Auswahl von fünf spezifischen Heuristiken, die wir im Marketing häufig sehen und auch selbst anwenden, seht ihr hier:

1. Verfügbarkeitsheuristik: Häufiger sehen, häufiger dran denken

Wie lernt man etwas? Ein Weg ist: Wiederholung, Wiederholung, Wiederholung. Das sind die Verfügbarkeitsheuristik und der Exposure-Effekt. Wir bewerten die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses oder die Häufigkeit eines Vorkommnisses auf Basis der Leichtigkeit, mit der uns Beispiele oder Informationen dazu in den Sinn kommen. Um so häufiger wir etwas gesehen haben, desto einfacher erinnern wir uns daran. Daher versuchen Markenverantwortliche Konsument*innen so häufig wie möglich mit relevanter Kommunikation anzusprechen, sowie die physikalische Verfügbarkeit und Sichtbarkeit am POS zu erhöhen. Mehr Frequenz bedeutet mehr Erinnerung; mehr Erinnerung bedeutet im besten Fall einen positiven Einfluss auf das Kaufverhalten.

2. Peak-End-Rule: Intensives Ende

Die Peak-End-Regel besagt, dass die prägendsten Teile einer Erfahrung unsere Gesamtwahrnehmung maßgeblich beeinflussen. Wir tendieren dazu eine Erfahrung anhand der intensivsten Momente (dem Höhepunkt oder Tiefpunkt) und dem Ende zu bewerten. Weniger berücksichtigt werden die Dauer oder der Durchschnitt aller Momente. Ein klassisches Beispiel ist die Trennung von eine*r Partner*in, deren Trauer im Trennungsmoment die guten Zeiten der Beziehung übermalt. Experience Design, Storytelling, PowerPoint Präsentationen: Höhepunkte und Ende bestimmen die Gesamterfahrung. Wie das englische Sprichwort sagt: “End on a high Note.”

3. Framing: Das richtige Licht

Ein absoluter Klassiker der Kommunikationsbranche. Framing heißt: Die Präsentation einer Information in einem gewissen Licht bestimmt, wie sie wahrgenommen wird. Beispielsweise kann ein Problem, durch clevere Wortwahl präventiv oder risikobehaftet klingen und so optimal an die Zielgruppe angepasst werden.

Risikofokus: “Rauchen erhöht das Risiko für Lungenkrebs um 70%.”;
Präventionsfokus: “Das Aufhören mit dem Rauchen senkt das Lungenkrebsrisiko um 70%.”

Ein aktuelles politisches Beispiel: Die U.S. Demokraten framen Donald Trump als „weird“, um inhaltliche Auseinandersetzung zu Gunsten seines Populismus zu vermeiden.

4. Loss Aversion: Verlust trifft härter

Die Grundannahme: Menschen vermeiden eher Verluste, als dass sie Gewinne anstreben. Dies kann sich in nuancierter Wortwahl äußern, die versuchen FOMO (Fear-Of-Missing-Out) auszulösen oder ganze Kampagnen informieren. Es sind z.B. viele Don’t Drink & Drive Kampagnen Verlust basiert. Nah verbunden ist auch der Zero-Risk-Bias, der besagt, dass wir in manchen Situationen 100% Sicherheit bevorzugen. Think: 30-Day Money-Back Guarantee.  

Beide Biases können uns dazu verleiten selbst kalkulierte Risiken nicht einzugehen und so halbherzige Lösungen zu wählen, nur weil sie sicherer scheinen. Wir hören bereits die Innovator*innen jeder Firma weinen.

5. Social Proof: 5 Sterne

Word-of-Mouth ist seit je her sehr effektiv und verschiedenste Instrumente – speziell online – nutzen die Social Proof Heuristik: Je mehr Menschen eine Idee für richtig halten, desto eher wird ein*e Einzelne*r diese Idee ebenfalls als richtig wahrnehmen. Bewertungsportale, Google Reviews, Influencer-Marketing – alles basiert auf der Heuristik, dass mit sichtbarer und glaubwürdiger Bestätigung durch Personen eine Verhaltensänderung gefördert werden kann. Das System ist anfällig für z.B. gefälschte Rezensionen, um Vertrauen in ein Produkt oder Service zu erkaufen oder zu zerstören. Dennoch funktioniert es, weil wir auch hier mit Schleichwegen zu einer Entscheidung finden.

Fazit: Jedes Werkzeug ist nur so gut, wie es genutzt wird

Egal welche Heuristiken als Erklärungen zu Verhaltensbeobachtungen genutzt werden: Sie sind keine One-Size-Fits-All Lösung. Wenn wir aber verstehen, dass wir irrational entscheiden und die Mechanismen früh im kreativen Prozess integrieren, helfen sie ein Problem in einem neuen Licht zu sehen. Sie fördern ganz einfach das Verständnis für den Menschen und rücken ihn weiter in den Mittelpunkt der Marketingaktivitäten.

Wir finden: Mehr menschenzentrierte Tools in unserer Toolbox zu haben ist gut.  
Als Lead-Agentur mit digitaler DNA arbeiten bei digitalwerk daher verschiedenste Blickwinkel, Interessen und Persönlichkeiten zusammen, um das bestmögliche Verständnis für den Menschen zu garantieren – ganz ohne thematische Silos, aber mit Herz, Verstand und Offenheit für das Irrationale.

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